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Kolumne
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Die Tyrannei der Intimität
Der öffentliche Raum zerfällt und unsere Gesellschaft
wird immer infantiler
ls ich neulich abends gelangweilt auf der Couch und das Ziel hatte, die entfremdeten Lebensverhältnisse
lag, begann ich mich durch die Fernsehsender zu in der autoritären Nachkriegsgesellschaft aufzubrechen.
Azappen. Ich landete schließlich beim Sender „Six“ Also die starren Rollenbilder und Verhaltensweisen, die
und dessen Sendung „Paula kommt. Sex und Gute Nackt- die Nachkriegsgesellschaft den Menschen aufzwang. Ich
geschichten“. Der Titel des Magazins sagt ja schon, worum kann mich zum Beispiel noch daran erinnern, dass ich als
es geht. Aus meiner Sicht: Da werden im pseudoaufklä- Kind sonntags die „gute Sonntagshose“ anziehen musste.
rerischen Tonfall voyeuristische Bedürfnisse bedient. Meine Eltern hielten sich starr an solche Regeln und ver-
Schockierend finde ich dabei nicht, dass über Sexualität mochten es nicht, sich darüber hinwegzusetzen. Sexuali-
und sexuelle Praktiken gesprochen wird. Schockierend ist tät war ein einziges großes Tabu. Meine Großmutter nahm
etwas anderes: Da erzählen (zumeist junge) Menschen von vor Kindern nicht mal das Wort „Schwangerschaft“ in
den allerintimsten Details ihres Sexuallebens (Zitat: „Ich den Mund. In dieser Zeit konnten Paare ohne Trauschein
lasse mich gerne fingern.“). Sie haben offenbar überhaupt auch keine Wohnung bekommen. Die Liste der Beispiele
nicht das geringste Gefühl für das, was man Privat- und ließe sich fortsetzen. Die damalige Gesellschaft zwang
Intimsphäre nennt. Dies kann man auch in anderer Form die Menschen in ein enges Normenkorsett, und das galt
in der Gesellschaft beobachten. Ein Beispiel, das ich an insbesondere für Frauen.
einem heißen Sommertag beim Einkaufen beobachten
konnte: Ein Mann von ca. 50 Jahren betrat den Super- Das wollten die Achtundsechziger ändern. Sie wollten
markt. Er war bekleidet mit einer klitzekleinen, engsit- eine freiere Gesellschaft, in der die Menschen authenti-
zenden Badehose, Sandalen und einem Trägerhemdchen. scher leben und sie selbst sein konnten. Dieses Anliegen
Unter diesem Hemdchen wölbte sich ein etwa medizin- war in hohem Maße berechtigt. Aber leider wurde das
ballgroßer Bauch. Später an der Kasse war das sich in der Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn die Idee eines au-
Badehose abzeichnende Genital des Mannes etwa auf thentischen Lebens, in dem Selbstverwirklichung möglich
Augenhöhe der Kassiererin. Das war eine wirklich schau- ist, führte, wie so oft bei Emanzipationsbewegungen, zu
erliche, peinliche Zumutung für alle anderen Menschen einer Überkompensation, indem alles Ich-Fremde abge-
im Supermarkt. Aber dies veranschaulicht genau das, was lehnt wurde: Man muss so sein und sich so zeigen können,
in unserer Gesellschaft seit Längerem der Fall ist: Das wie man ist.
Gefühl dafür, dass man sich im öffentlichen Raum anders
verhalten sollte als bei sich zu Hause in den eigenen vier Das klingt harmloser, als es ist. Politisch und gesellschaft-
Wänden, haben viele Menschen nicht mehr. lich hat dieser Anspruch fatale Konsequenzen. Die Gesell-
schaft „erzieht“ heute ihre Mitglieder förmlich zu Narziss-
Was ist der Grund für diese mus und egomanischer Selbstbezogenheit. Die Menschen
gesellschaftliche Entwicklung? sind deshalb heute zunehmend unfähig, das zu tun, was
eine zivilisierte Gesellschaft und deren öffentlichen Raum
ausmacht: Nämlich, dass man sich in der Öffentlichkeit
Diese Entwicklung hat zu tun mit einem gesellschaftli- eben gerade nicht authentisch zeigt, sondern dass man
chen Ideal, das von der 68er-Bewegung geprägt wurde stattdessen versucht, in der Öffentlichkeit eine bessere
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