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Kolumne




















                                                                                                               © iStock.com/Nastco




                  Die Tyrannei der Intimität





                   Der öffentliche Raum zerfällt und unsere Gesellschaft

                                            wird immer infantiler




              ls ich neulich abends gelangweilt auf der Couch   und das Ziel hatte, die entfremdeten Lebensverhältnisse
              lag, begann ich mich durch die Fernsehsender zu   in der autoritären Nachkriegsgesellschaft aufzubrechen.
         Azappen. Ich landete schließlich beim Sender „Six“   Also die starren Rollenbilder und Verhaltensweisen, die
         und dessen Sendung „Paula kommt. Sex und Gute Nackt-  die Nachkriegsgesellschaft den Menschen aufzwang. Ich
         geschichten“. Der Titel des Magazins sagt ja schon, worum   kann mich zum Beispiel noch daran erinnern, dass ich als
         es geht. Aus meiner Sicht: Da werden im pseudoaufklä-  Kind sonntags die „gute Sonntagshose“ anziehen musste.
         rerischen Tonfall voyeuristische Bedürfnisse bedient.   Meine Eltern hielten sich starr an solche Regeln und ver-
         Schockierend finde ich dabei nicht, dass über Sexualität   mochten es nicht, sich darüber hinwegzusetzen. Sexuali-
         und sexuelle Praktiken gesprochen wird. Schockierend ist   tät war ein einziges großes Tabu. Meine Großmutter nahm
         etwas anderes: Da erzählen (zumeist junge) Menschen von   vor Kindern nicht mal das Wort „Schwangerschaft“ in
         den allerintimsten Details ihres Sexuallebens (Zitat: „Ich   den Mund. In dieser Zeit konnten Paare ohne Trauschein
         lasse mich gerne fingern.“). Sie haben offenbar überhaupt   auch keine Wohnung bekommen. Die Liste der Beispiele
         nicht das geringste Gefühl für das, was man Privat- und   ließe sich fortsetzen. Die damalige Gesellschaft zwang
         Intimsphäre nennt. Dies kann man auch in anderer Form   die Menschen in ein enges Normenkorsett, und das galt
         in der Gesellschaft beobachten. Ein Beispiel, das ich an   insbesondere für Frauen.
         einem heißen Sommertag beim Einkaufen beobachten
         konnte: Ein Mann von ca. 50 Jahren betrat den Super-  Das wollten die Achtundsechziger ändern. Sie wollten
         markt. Er war bekleidet mit einer klitzekleinen, engsit-  eine freiere Gesellschaft, in der die Menschen authenti-
         zenden Badehose, Sandalen und einem Trägerhemdchen.   scher leben und sie selbst sein konnten. Dieses Anliegen
         Unter diesem Hemdchen wölbte sich ein etwa medizin-  war in hohem Maße berechtigt. Aber leider wurde das
         ballgroßer Bauch. Später an der Kasse war das sich in der   Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn die Idee eines au-
         Badehose abzeichnende Genital des Mannes etwa auf    thentischen Lebens, in dem Selbstverwirklichung möglich
         Augenhöhe der Kassiererin. Das war eine wirklich schau-  ist, führte, wie so oft bei Emanzipationsbewegungen, zu
         erliche, peinliche Zumutung für alle anderen Menschen   einer Überkompensation, indem alles Ich-Fremde abge-
         im Supermarkt. Aber dies veranschaulicht genau das, was   lehnt wurde: Man muss so sein und sich so zeigen können,
         in unserer Gesellschaft seit Längerem der Fall ist: Das   wie man ist.
         Gefühl dafür, dass man sich im öffentlichen Raum anders
         verhalten sollte als bei sich zu Hause in den eigenen vier   Das klingt harmloser, als es ist. Politisch und gesellschaft-
         Wänden, haben viele Menschen nicht mehr.             lich hat dieser Anspruch fatale Konsequenzen. Die Gesell-
                                                              schaft „erzieht“ heute ihre Mitglieder förmlich zu Narziss-
         Was ist der Grund für diese                          mus und egomanischer Selbstbezogenheit. Die Menschen

         gesellschaftliche Entwicklung?                       sind deshalb heute zunehmend unfähig, das zu tun, was
                                                              eine zivilisierte Gesellschaft und deren öffentlichen Raum
                                                              ausmacht: Nämlich, dass man sich in der Öffentlichkeit
         Diese Entwicklung hat zu tun mit einem gesellschaftli-  eben gerade nicht authentisch zeigt, sondern dass man
         chen Ideal, das von der 68er-Bewegung geprägt wurde   stattdessen versucht, in der Öffentlichkeit eine bessere


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