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FAMILIENMAGAZIN OLDENBURG  1 | 2021







               diese beiden älteren Menschen zu schauen und     haben und nun den letzten Abschnitt ihres Lebens
               sich interessiert zu fragen: „Was sind das für Men-  vor sich haben. Was für ein Schatz an Lebenser-
               schen?“ Oft sehen wir unsere Eltern immer nur    fahrung! Und Sie dürfen sich dafür interessieren
               als Eltern, als unsere Mutter und unseren Vater.   und nachfragen! Wie wäre es, Ihrer Mutter und
               Aber unabhängig von dieser Rolle sind die beiden   Ihrem Vater beim nächsten Mal ehrlich zu sagen:
               ja individuelle menschliche Wesen. Menschen, die   „Mir ist aufgefallen, ich weiß so wenig über euch
               irgendwann auch einmal Kind gewesen sind.        und eure Kindheit. Wie war das damals? Wo hast
                                                                du eigentlich gewohnt? Wer hat noch mit im Haus
               Was wissen Sie über die Kindheit Ihrer Eltern?   gewohnt? Hattest du einen Freund, mit dem du
               Dem Alter nach sind beide das, was wir heute     immer gespielt hast? Wo bist du zur Schule gegan-
               Kriegskinder nennen. Sie sind im Krieg groß ge-  gen? Hattest du einen Lieblingslehrer? Was war
               worden. Haben Sie einmal darüber nachgedacht?    dein liebstes Fach?“ Es empfiehlt sich, zunächst
               Wie haben Ihre Eltern ihre ersten Lebensjahre    nach der äußeren Wohn- und Lebenssituation zu
               erlebt? Wir wissen heute, dass viele Kriegskinder   fragen. Hier sind die Erinnerungen noch unbelas-
               in ihrer frühsten Kindheit traumatisiert worden   tet, und daraus ergeben sich oft ganz natürlich
               sind. Viele haben Hunger und Gewalt erfahren.    emotionalere Themen. Auch das gemeinsame
               Viele sind ohne Vater großgeworden. Manche       Anschauen von alten Fotos lässt die Erinnerung
               haben Flucht oder Vertreibung erlebt. Alles in   lebendig werden und Sie erfahren wieder ein
               allem waren diese Jahre auf jeden Fall geprägt von   bisschen mehr über die Kindheit und das Leben
               Angst, Unsicherheit, Hilflosigkeit, Ohnmacht und   Ihrer Eltern.
               einem Gefühl von Alleinsein. Die eigenen Eltern
               hatten so große Sorgen, dass viele dieser Kinder   Ich bin sicher, mit dieser offenen und respekt-
               sich sehr angepasst verhalten haben. Sie wollten   vollen Haltung wird sich die Beziehung zu Ihren
               den Eltern – besonders der Mutter, die in diesen   Eltern nachhaltig verändern. Eltern werden von
               Jahren oft ohne ihren Mann, der im Krieg war,    ihren erwachsenen Kindern oft mit dem stillen
               leben musste – nicht noch mehr Kummer machen.    Vorwurf „Ich hätte mehr von euch gebraucht!“
               Viele Jungen waren zwangsläufig Partnerersatz für   angeschaut. Das belastet die Beziehung. Wenn
               die Mutter und übernahmen in dieser Rolle oft viel   jedoch für sie eine Haltung spürbar wird von „Ich
               zu viel Verantwortung in der Familie ohne Vater.   weiß so wenig über dich und dein Leben und
               So erlebten diese Kriegskinder, dass ihre eigenen   möchte gerne mehr darüber erfahren“, entwickeln
               kindlichen Gefühle wenig beachtet und ihre Be-   sich oft Wunder.
               dürfnisse nicht erfüllt wurden. Diese wurden dann
               oft abgespalten, um die schmerzhafte Nichter-    Seien Sie mutig und fragen nach! Ich wünsche
               füllung nicht spüren zu müssen. Was damals ein   Ihnen und Ihren Eltern auf jeden Fall ganz viel
               gesunder und hilfreicher seelischer Abwehrme-    Freude und Nähe auf diesem neuen Weg.
               chanismus war, wurde später oft
               zum Problem. So haben sie sich
               oft zu Erwachsenen mit wenig                                                     © istock/ YakobchukOlena
               Zugang zu den eigenen Gefühlen
               entwickelt und hatten dement-
               sprechend auch wenig Zugang
               zu den Gefühlen ihrer eigenen
               Kinder. Die Kinder wurden ma-
               teriell gut versorgt mit der Idee:
               „Ihr sollt es einmal besser haben
               als wir.“ Auf der emotionalen
               Ebene war die Beziehung aber
               oft schwierig.

               Wie wäre es, wenn Sie bei Ihrem
               nächsten Besuch einmal ver-
               suchen, Ihre Eltern mit ganz
               neuen Augen zu sehen. Nicht
               als Ihre Eltern, von denen Sie
               sich mehr Interesse wünschen,
               sondern als zwei ganz besondere
               Menschen, die den Krieg erlebt
               und überlebt haben, die sich ein
               gemeinsames Leben aufgebaut


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